Würden Sie 164 Menschen töten, um 70.000 Menschen zu retten? Diese Frage stellt sich in den unterschiedlichsten Formen und Abwandlungen. In der verfilmten Graphic Novel Watchmen wurde die Frage sogar bis auf die Spitze getrieben: Ist es okay eine Stadt wie New York mit 16 Millionen Menschen auszulöschen, um den Frieden zu sichern und einen Atomkrieg zu verhindern, der die gesamte Menschheit auslöschen würde?


Am Montag (18.10.16) zeigten ARD, ORF und SF die Verfilmung des Theaterstücks von Ferdinand von Schirach „Terror“. Das Stück handelt von einer Gerichtsverhandlung. Dem Angeklagten Lars Koch wird der Mord mittels gemeingefährlichen Mittels an 164 Menschen vorgeworfen. Terroristen hatte ein Flugzeug gekapert und flogen direkt auf die vollbesetze Allianz-Arena in München zu. Lars Koch hatte als Luftwaffenpilot den Befehl durch Abdrängen und Abgabe eines Warnschuss die Terroristen zur Umkehr zu zwingen. Nachdem dies scheiterte, schoss Lars Koch befehlswidrig das Flugzeug ab, tötete alle 164 Insassen, rettete womöglich 70.000 Menschenleben. Am Ende des Theaterstücks wie auch im Film konnten die Zuschauer darüber abstimmen, ob der Pilot in ihren Augen schuldig oder nicht-schuldig sei. Am Montagabend entschieden sowohl in Deutschland, als auch in Österreich und in der Schweiz zwischen 83 % bis 85 % der Zuschauer für einen Freispruch des Angeklagten. Erschreckend.
Noch erschreckender war jedoch die darauf folgende Diskussionsrunde im deutschen Fernsehen. Frank Plasberg hatte in seine Sendung „Hart aber Fair“ eingeladen: Franz Josef Jung (ehem. Bundesverteidigungsminister, CDU), Thomas Wassmann (ehem. Kampfpilot), Petra Bahr (Theologin) und Gerhard Baum (ehem. Innenminister, FDP) der u.a. vor dem Bundesverfassungsgericht erfolgreich gegen das Luftsicherheitsgesetz, welches einen solchen Abschuss gerechtfertigt hätte, geklagt hatte.
Die Frage, ob es rechtens ist eine geringere Anzahl an Menschen für eine größere Anzahl zu opfern ist gewiss keine leichte. Das Grundgesetz zieht hier aber eine harte Linie: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Zu dieser Menschenwürde gehört es, dass Menschen nicht verdinglicht werden dürfen. Menschen als Teil der Bedrohung und Teil einer Angriffswaffe wahrzunehmen, weil sie zwar unschuldig sind, sich aber zufälligerweise in einem gekaperten Flugzeug befinden, ist eine solche Verdinglichung. Zusätzlich gilt ein weiterer gewichtiger Grundsatz: Leben ist nicht mit Leben abwägbar. Es ist schlichtweg mit dem Grundrecht auf Leben nach Art. 2 Abs. 2 GG und dem Grundsatz der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG unvereinbar, einen unschuldigen Menschen zu töten um einen/zwei/zehn/hundert/tausende Menschen zu retten. Jedes Leben ist nach dem Grundgesetz unendlich wert. Betrachtet man die Situation aus dem Theaterstück rein mathematisch, so kommt man zu dem Schluss, dass dass 164 mal unendlich genau dasselbe wie 70.000 mal unendlich ist: nämlich unendlich.
Es mag einem widerstreben, dass man nach dem Grundgesetz, welches die Grundprinzipien unserer Gesellschaft verankert, neben den unschuldigen 164 Menschenleben auch noch das Leben der unschuldigen 70.000 Zuschauer gefährden hätte müssen. Aber wer garantiert, dass es zu einem weiteren Unglücksfall gekommen wäre? Was wäre, wenn die Passagiere es beispielsweise doch noch rechtzeitig geschafft hätten, die Terroristen zu überwältigen und das Flugzeug noch umzulenken? Was wäre, wenn die Terroristen den Anschlagsversuch abgebrochen hätten? Was ist eigentlich mit den Menschen, die nicht im Fußballstadium waren? Würde ein abgeschossenes Flugzeug nicht auch komplett unbeteiligte Opfer im Absturzgebiet fordern können? Wo kommen wir eigentlich hin, wenn wir anfangen die Menschenwürde in Frage zu stellen? Fangen wir an zufällige, gesunde Menschen als Organteillager auszunehmen, um einer Vielzahl von Menschen das Leben zu retten? Jedes Jahr gibt es ca. 25 Fälle, in denen der Funkkontakt zu einem Flugzeug abbricht und ein Terrorakt befürchtet wird. Seit 2003 gab es in Deutschland 6 sog. Renegade-Fälle, also Lagen, in denen die Vermutung, der Verdacht oder die Gewissheit besteht, dass das Flugzeug als Waffe verwendet werden soll. Alleine die Tatsache, dass bis jetzt kein Terroranschlag mittels eines Renegades in Deutschland stattgefunden hat zeigt, dass eine Abschusserlaubnis wahrscheinlich ohne Not unschuldige Menschen das Leben gekostet hätte.
Erschreckend ist es dennoch, dass sich eine überwältigende Mehrheit gegen diese Grundsätze der Menschenwürde stellt und hier das Flugzeug abgeschossen hätte. Richtig beängstigend wurde es aber erst in der Diskussionsrunde danach. Abgesehen davon, dass Frank Plasberg kein Künstler der Neutralität ist und auch ein T-Shirt mit der Aufschrift „Team Abschuss“ hätte anziehen können, ist die Einstellung der beiden Militärs zum Grundgesetz einfach nur fürchterlich. Franz Jung als ehemaliger Verteidigungsminister erklärte, dass er der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu wider dennoch einen Abschuss eines sog. Renegade-Flugzeuges befehlen würde. Den Vogel abgeschossen hat Herr Wassmann, der das Grundgesetz nicht mehr für zeitgemäß hält und Art. 1 Abs. 1 GG gerne ergänzen würde, um Flugzeugabschüsse zuzulassen. Wenn hohe Vertreter in der Bundeswehr der Auffassung sind, dass sie über dem Grundgesetz stehen und selbst die unveränderlichen Kernbereiche des Grundgesetzes missachten wollen, stellt sich die Frage, wie man sich überhaupt wehren kann. Bezieht sich diese Haltung nur auf Flugzeuge? Würde die Bundeswehr beispielsweise auch foltern, um vermeintlich andere zu retten? Würde die Bundeswehr präventiv mögliche Terroristen eliminieren, weil sie evtl. einmal einen Anschlag planen könnten? Wie kann man einen Unrechtsstaat vermeiden, wenn Spitzenmilitärs der Meinung sind, sie stünden über dem Gesetz und 83 % der Bevölkerung begrüßen diese Haltung?
Wir müssen in Deutschland dringend eine Debatte darüber führen, welchen Stellenwert das Grundgesetz für unsere Gesellschaft hat. Natürlich ist das Grundgesetz nicht in Stein gemeißelt, sodass auch darüber diskutiert werden dürfen muss, in wie weit einige Normen zeitgemäß sind; man denke beispielsweise an die Interpretation, das Ehe-Grundrecht stelle Hetero-Partnerschaften über Homo-Partnerschaften. Das Grundrecht der Menschenwürde düfte jedoch – nach den Schrecken der NS-Zeit – eine der größten Errungenschaften unserer heutigen Gesellschaft sein. Natürlich muss auch darüber diskutiert werden können, was Menschenwürde überhaupt ist. Bei der Frage der Abtreibung wird man ohne Diskussion um die Menschenwürde auf keinen grünen Zweig kommen können. Aber wer ernsthaft dieses Grundrecht aushebeln will, „ergänzen“ möchte oder wer meint, er sei über die Verfassung erhaben ist schlicht ein Verfassungsfeind. Es ist beängstigend, dass solche Tendenzen bei ehemaligen führenden Politikern und in der Bundeswehr vorhanden sind, obwohl es eigentlich ihre Aufgabe wäre unsere Verfassung und unsere Grundwerte zu schützen.