Würden Sie 164 Menschen töten, um 70.000 Menschen zu retten? Diese Frage stellt sich in den unterschiedlichsten Formen und Abwandlungen. In der verfilmten Graphic Novel Watchmen wurde die Frage sogar bis auf die Spitze getrieben: Ist es okay eine Stadt wie New York mit 16 Millionen Menschen auszulöschen, um den Frieden zu sichern und einen Atomkrieg zu verhindern, der die gesamte Menschheit auslöschen würde?
Am Montag (18.10.16) zeigten ARD, ORF und SF die Verfilmung des Theaterstücks von Ferdinand von Schirach „Terror“. Das Stück handelt von einer Gerichtsverhandlung. Dem Angeklagten Lars Koch wird der Mord mittels gemeingefährlichen Mittels an 164 Menschen vorgeworfen. Terroristen hatte ein Flugzeug gekapert und flogen direkt auf die vollbesetze Allianz-Arena in München zu. Lars Koch hatte als Luftwaffenpilot den Befehl durch Abdrängen und Abgabe eines Warnschuss die Terroristen zur Umkehr zu zwingen. Nachdem dies scheiterte, schoss Lars Koch befehlswidrig das Flugzeug ab, tötete alle 164 Insassen, rettete womöglich 70.000 Menschenleben. Am Ende des Theaterstücks wie auch im Film konnten die Zuschauer darüber abstimmen, ob der Pilot in ihren Augen schuldig oder nicht-schuldig sei. Am Montagabend entschieden sowohl in Deutschland, als auch in Österreich und in der Schweiz zwischen 83 % bis 85 % der Zuschauer für einen Freispruch des Angeklagten. Erschreckend.
Noch erschreckender war jedoch die darauf folgende Diskussionsrunde im deutschen Fernsehen. Frank Plasberg hatte in seine Sendung „Hart aber Fair“ eingeladen: Franz Josef Jung (ehem. Bundesverteidigungsminister, CDU), Thomas Wassmann (ehem. Kampfpilot), Petra Bahr (Theologin) und Gerhard Baum (ehem. Innenminister, FDP) der u.a. vor dem Bundesverfassungsgericht erfolgreich gegen das Luftsicherheitsgesetz, welches einen solchen Abschuss gerechtfertigt hätte, geklagt hatte.
Die Frage, ob es rechtens ist eine geringere Anzahl an Menschen für eine größere Anzahl zu opfern ist gewiss keine leichte. Das Grundgesetz zieht hier aber eine harte Linie: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Zu dieser Menschenwürde gehört es, dass Menschen nicht verdinglicht werden dürfen. Menschen als Teil der Bedrohung und Teil einer Angriffswaffe wahrzunehmen, weil sie zwar unschuldig sind, sich aber zufälligerweise in einem gekaperten Flugzeug befinden, ist eine solche Verdinglichung. Zusätzlich gilt ein weiterer gewichtiger Grundsatz: Leben ist nicht mit Leben abwägbar. Es ist schlichtweg mit dem Grundrecht auf Leben nach Art. 2 Abs. 2 GG und dem Grundsatz der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG unvereinbar, einen unschuldigen Menschen zu töten um einen/zwei/zehn/hundert/tausende Menschen zu retten. Jedes Leben ist nach dem Grundgesetz unendlich wert. Betrachtet man die Situation aus dem Theaterstück rein mathematisch, so kommt man zu dem Schluss, dass dass 164 mal unendlich genau dasselbe wie 70.000 mal unendlich ist: nämlich unendlich.
Es mag einem widerstreben, dass man nach dem Grundgesetz, welches die Grundprinzipien unserer Gesellschaft verankert, neben den unschuldigen 164 Menschenleben auch noch das Leben der unschuldigen 70.000 Zuschauer gefährden hätte müssen. Aber wer garantiert, dass es zu einem weiteren Unglücksfall gekommen wäre? Was wäre, wenn die Passagiere es beispielsweise doch noch rechtzeitig geschafft hätten, die Terroristen zu überwältigen und das Flugzeug noch umzulenken? Was wäre, wenn die Terroristen den Anschlagsversuch abgebrochen hätten? Was ist eigentlich mit den Menschen, die nicht im Fußballstadium waren? Würde ein abgeschossenes Flugzeug nicht auch komplett unbeteiligte Opfer im Absturzgebiet fordern können? Wo kommen wir eigentlich hin, wenn wir anfangen die Menschenwürde in Frage zu stellen? Fangen wir an zufällige, gesunde Menschen als Organteillager auszunehmen, um einer Vielzahl von Menschen das Leben zu retten? Jedes Jahr gibt es ca. 25 Fälle, in denen der Funkkontakt zu einem Flugzeug abbricht und ein Terrorakt befürchtet wird. Seit 2003 gab es in Deutschland 6 sog. Renegade-Fälle, also Lagen, in denen die Vermutung, der Verdacht oder die Gewissheit besteht, dass das Flugzeug als Waffe verwendet werden soll. Alleine die Tatsache, dass bis jetzt kein Terroranschlag mittels eines Renegades in Deutschland stattgefunden hat zeigt, dass eine Abschusserlaubnis wahrscheinlich ohne Not unschuldige Menschen das Leben gekostet hätte.
Erschreckend ist es dennoch, dass sich eine überwältigende Mehrheit gegen diese Grundsätze der Menschenwürde stellt und hier das Flugzeug abgeschossen hätte. Richtig beängstigend wurde es aber erst in der Diskussionsrunde danach. Abgesehen davon, dass Frank Plasberg kein Künstler der Neutralität ist und auch ein T-Shirt mit der Aufschrift „Team Abschuss“ hätte anziehen können, ist die Einstellung der beiden Militärs zum Grundgesetz einfach nur fürchterlich. Franz Jung als ehemaliger Verteidigungsminister erklärte, dass er der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu wider dennoch einen Abschuss eines sog. Renegade-Flugzeuges befehlen würde. Den Vogel abgeschossen hat Herr Wassmann, der das Grundgesetz nicht mehr für zeitgemäß hält und Art. 1 Abs. 1 GG gerne ergänzen würde, um Flugzeugabschüsse zuzulassen. Wenn hohe Vertreter in der Bundeswehr der Auffassung sind, dass sie über dem Grundgesetz stehen und selbst die unveränderlichen Kernbereiche des Grundgesetzes missachten wollen, stellt sich die Frage, wie man sich überhaupt wehren kann. Bezieht sich diese Haltung nur auf Flugzeuge? Würde die Bundeswehr beispielsweise auch foltern, um vermeintlich andere zu retten? Würde die Bundeswehr präventiv mögliche Terroristen eliminieren, weil sie evtl. einmal einen Anschlag planen könnten? Wie kann man einen Unrechtsstaat vermeiden, wenn Spitzenmilitärs der Meinung sind, sie stünden über dem Gesetz und 83 % der Bevölkerung begrüßen diese Haltung?
Wir müssen in Deutschland dringend eine Debatte darüber führen, welchen Stellenwert das Grundgesetz für unsere Gesellschaft hat. Natürlich ist das Grundgesetz nicht in Stein gemeißelt, sodass auch darüber diskutiert werden dürfen muss, in wie weit einige Normen zeitgemäß sind; man denke beispielsweise an die Interpretation, das Ehe-Grundrecht stelle Hetero-Partnerschaften über Homo-Partnerschaften. Das Grundrecht der Menschenwürde düfte jedoch – nach den Schrecken der NS-Zeit – eine der größten Errungenschaften unserer heutigen Gesellschaft sein. Natürlich muss auch darüber diskutiert werden können, was Menschenwürde überhaupt ist. Bei der Frage der Abtreibung wird man ohne Diskussion um die Menschenwürde auf keinen grünen Zweig kommen können. Aber wer ernsthaft dieses Grundrecht aushebeln will, „ergänzen“ möchte oder wer meint, er sei über die Verfassung erhaben ist schlicht ein Verfassungsfeind. Es ist beängstigend, dass solche Tendenzen bei ehemaligen führenden Politikern und in der Bundeswehr vorhanden sind, obwohl es eigentlich ihre Aufgabe wäre unsere Verfassung und unsere Grundwerte zu schützen.
Oktober 20, 2016 at 11:03 am
Lieber Matthias Sing,
ich habe noch den ein oder anderen Gedanken hinzuzufügen.
Als erstes gilt es klar zu unterscheiden, zwischen dem Votum, das die Zuschauer abgegeben haben und den Äußerungen der Gäste in der Talkrunde hinterher.
Das ein Militär natürlich auch strategisch denkt und im Kriegsfall (den wir doch hoffentlich nie erleben werden) durchaus Zahlen abwägen muss, steht außer Frage und dazu möchte ich jetzt eigentlich auch gar nichts schreiben.
Ich möchte primär das Augenmerk auf die Zuschauer und das Votum eben jener lenken. Klar ist schonmal: über 80% sowohl in Deutschland als auch in Österreich wie der Schweiz deuten darauf hin, dass der Zuschauer zumindest Sympathie und Verständnis für den Piloten hegt.
Hier ist es nun wichtig zwischen zwei verschiedenen Gesichtspunkten zu unterscheiden:
1. Der rechtliche, den der Staat vertreten muss und der wunderbar im Eintrag oben erklärt wird. Dem ist nichts hinzuzufügen.
2. Der moralische, menschliche. Unsere Ethik betreffend. Dieser ist wesentlich schwerer zu fassen und kommt leider in der Betrachtung sehr zu kurz, denn auch daran gilt es die Entscheidung zu messen – wenn auch nicht von juristischer Sicht.
Das ganze Dilemma ist weithin und in verschiedensten Formen bekannt.
Beispiel: Ein Zug rast auf eine Abzweigung hin. Geradeaus (ohne Eingreifen) spielen fünf Kinder die den Zug nicht kommen sehen, Abzweigung rechts ein einzelner Rentner. Greift man nun ein oder nicht? Leider bin ich rechtlich nicht bewandert. Jedenfalls ist man als Entscheider in der Zwickmühle: So oder so ist man für Tote verantwortlich, welches Übel wählt man also? Einfach ist es nicht jedoch glaube ich, dass die Mehrheit sagen wird: „NEIN DA MUSS MAN ETWAS TUN!“.
Diese Entscheidung ist nun ziemlich ähnlich zu der Geschichte in „Terror“. Moralisch kommen wir in einen Konflikt, der nicht einfach zu lösen ist. Rein logisch würde man vielleicht eher denken „Okay ein Rentner hat schon so viel erlebt dagegen fünf Kinder .. klare Sache ich stelle die Weiche“. Das selbe fühlt irgendwie die Moral. Rechtlich würde mich da mal die Situation interessieren. So oder so nimmt man Tote billigend in Kauf um andere zu retten.
Um nun den Bogen zu schließen: Die Fragestellung in der Geschichte „Terror“ ist nun gewesen ob „schuldig“ oder „unschuldig“. Die Antwort lautet schuldig, da wir hier vor einem Gericht stehen, das die Gesetze anwendet und hier das Grundgesetz den Abschuss verbietet. Die Frage die aber die Zuschauer mehrheitlich beantwortet haben ist vielmehr „finden sie das der Pilot richtig gehandelt hat“. Hier meldet sich dann die Moral zu Wort und ein so abgebrühtes „schuldig“ wie von gerichtlicher Seite ist nicht mehr möglich.
In dieser Betrachtung ist es sehr hart den Zuschauern die Achtung der Menschenwürde abzuerkennen.
Ist nun das Grundgesetz das Problem? Nein! Selbstredend nicht. Der Staat darf nicht willkürlich Abschüsse erlauben. Er muss dafür sorgen dass eben die Menschenwürde gehalten wird und kein Mensch objektiviert wird. Und deshalb sollen und müssen Abschüsse nach wie vor verboten sein.
Im Beispiel mit dem Zug: Derjenige der die Weiche stellen kann, sollte rein formal in beiden Fällen schuld am Tot der Kinder bzw. des Rentners haben.
Zum Schluss die paradox wirkende zusammengefasste These meinerseits: Der Pilot ist schuldig im Sinne der Anklage aber ein moralisch gefühlter Held. Mit diesem Umstand müssen wir alle leben.
Beste Grüße
Oktober 20, 2016 at 4:51 pm
Liebe Anonymos,
vielen Dank für ihre Antwort. Die Frage ob man hier Moral und Recht trennen muss, ist in meinem Artikel vielleicht zu kurz gekommen. Dass hier rein juristisch der Pilot auf jeden Fall schuldig ist, ist klar.
Ob es moralisch richtig ist, sehe ich anders als Sie, auch wenn ich die andere Ansicht verstehe (und zeitweise auch selbst vertreten habe). Wenn man Ihr Beispiel mit den Rentnern und den Kindern nehme: Ich finde es moralsich falsch hier zu entscheiden, dass der Renter weniger wert ist als die Kinder, nur weil der eine älter ist. Vielleicht ist unter den Kindern ein neuer potentieller Adolf Hitler, der Millionen von Menschen umbringen wird, wenn ich den Zug auf den Rentner lenke. Auch wenn die Antwort unbefriedigend ist, würde ich in das Geschehen hier aus moralischen Gründen nicht eingreifen, weil ich nicht richtig handeln kann. (rein juristisch wäre hier ebenfalls ein Eingreifen zumindest ein Totschlag, der nicht entschuldigbar wäre, sofern die Kinder/der Rentner die sie retten kein Angehöriger sind/ist).
Das selbe Dilemma hatten wir auch im Flugzeug-Fall: Wissen wir mit 100%tiger Wahrscheinlichkeit, dass das Flugzeug in das Stadion stürzt? Vielleicht dreht der Pilot doch ab, weil der Terrorist doch überwältigt wird, er einen Rückzieher macht oder sonst irgendwie. Was ist eigentlich mit den Menschen im Absturzgebiet? Auch wenn das gerade ziemlich unbefriedigend klingt, auch hier kann man meiner Meinung nach nicht richtig entscheiden. Entweder man tötet Mensschen gezielt, die vielleicht überlebt hätten oder man rettet Menschen, die vielleicht gar nicht gerettet werden müssen.
Ich verstehe ihre moralische Argumentation und kann sie nachvollziehen. Ich selber teile sie aber nicht.
Beste Grüße
Oktober 20, 2016 at 12:29 pm
Wisst ihr, was wirklich Abgründe der Politik und Diskussionskultur auftut?
Artikel, die als Headliner einen Satz haben, der schlicht und ergreifend überhaupt nicht darstellt, worum es eigentlich im Artikel geht. „Würden Sie 164 Menschen töten, um 70.000 Menschen zu retten?“ und dann weiter damit argumentieren, dass das ganze doch unsicher sei und auch andere Menschen bei der Rettung von 70.000 Menschen zu Schaden kommen können.
Das sind Argumente, die nicht ein mal zählen, wenn man in der Metrik des Lebenabwägens bleibt. Wenn bei der Rettung 5.000 Menschen umkommen und dafür 70.000 nicht, dann wäre das doch immer noch ein „großer Erfolg.“
Zum nächsten: Die Renegade-Fälle sind nicht annähernd vergleichbar mit dem Szenario des Filmes, weil es in diesem eben nicht um ein „vielleicht“ geht, sondern um ein „oh, der will Leute töten. Viele. Und das mit einer unwahrscheinlich hohen Sicherheit, was er uns ziemlich direkt mitteilt.“
Hab ich schon erwähnt, dass ein einfacher Bezug auf das status quo nicht als Berechtigung für das status quo gilt? „Die Handlung war vollkommen falsch, weil es im GG festgelegt ist und wir dürfen das GG nicht hinterfragen oder ändern, weil es das GG ist.“ Glückwunsch zu einem gelungen Zirkelschluss. Im Anschluss noch mal ein „Wo kommen wir denn hin?“-Dammbruchargument. Ich will weinen.
Jetzt zu den Worten an unsere Politiker und Militärs:
Dir ist bewusst, dass wir von genau diesen Menschen verlangen, jederzeit Leben und Geld und alles abzuwägen, egal was im GG steht? „Geben wir das Geld jetzt für die bessere Gesundheitsversogung aus, oder nicht?“ „Finanzieren wir mal wieder vernünftige Rettungssanitäter, oder ignorieren wir das weiter und investieren unser Geld lieber in die Krebsforschung?“ „Ach, ist das nicht toll, wie viel die Saudis für unsere Waffen zahlen?“ „Schick ich meine Bodentruppen jetzt da rein und gehe das Risiko von Verletzten auf meiner Seite ein, oder schicke ich doch lieber einen Luftschlag und riskiere Zivile Opfer?“ „Ich kann nicht beide Stellungen in den beiden Dörfen gleichermaßen gut verteidigen, eine wird ziemlich sicher überrant und Boko Haram ist bekanntlich nicht nett zu Gefangenen und Zivilisten.“ Schon genannte Notärzte oder Sanitäter haben es auch nicht einfach, bei Massenunfällen und ähnlichem. Das Kind, das schwer verletzt aussieht, oder die Oma, die ungefähr gleich weit weg liegt und um Hilfe schreit?
Worauf ich hinaus will: Wir erwarten von Menschen ständig, dass sie irgendwie um eine, zwei, oder keine Ecken Menschleben abwägen. Aber wenn es dann mal darum geht direkt das zu demonstrieren schütteln alle, die etwas von sich und ihrem Verständis der Welt zu viel halten, den Kopf und tun so, als wäre es irre überhaupt diese teils doch fragwürde Gesetzgebung zu hinterfragen.
Kein einziger Satz in dem Artikel erklärt mir, warum ich kein Lebenabwägen darf und warum das so schrecklich ist. Der Bezug auf das Grundgesetz und die Behauptung, dass alles dort die Grundfeste der Gesellschaft ausmacht, ist einfach nicht mal in der nähe einer Rechtfertigung dafür.
Was meiner Meinung nach interssant zu untersuchen wäre, ist doch der gravierende unterschied zwischen moralisch gerechtfertigt, Recht und Gerechtigkeit. Wenn wir uns einig sind, dass der Umgang mit dem GG so bleiben darf, wie es ist – wo ich mir nicht mal sicher wäre – dann müssen wir uns doch mindestens noch damit beschäftigen, ob er nicht trotzdem richtig oder moralisch korrekt gehandelt hat. Recht ist nicht gleich richtig – auch wenn es oft nötig ist, dass dieses so ist und bleibt. Dieser Knackpunkt wird aber hier überhaupt nicht betrachtet.
Leicht ist es immer, den Idealismus in die Welt hineinzuschreien. Aber die echte Abwägung muss hier niemand treffen und ich traue uns auch allen nicht zu in der echten Situation so zu handeln, wie du es hier in deinem Artikel offensichtlich verlangst.
Ich weiß jedenfalls: Wenn ich in einen Großunfall gerate und mir nicht sicher bin, wen ich retten kann und wen nicht, hol ich erst mal meine Freunde und Geliebten – im vollen Bewusstsein, dass ich anderen nicht helfen kann und was das für diese vielleicht bedeutet.
Bei dem Flugzeugszenario würde ich mindestens hinterfragen müssen, was ich tue, bevor ich handle. Egal was wo geschrieben steht.
Dann bin ich wohl Verfassungsfeind.
Oktober 20, 2016 at 4:28 pm
Lieber Leo, ich möchte meine Antwort mit diesem Satz aus deinem Kommentar anfangen:
„Recht ist nicht gleich richtig“ – Damit hast du recht. Man kann natürlich eine solche Situation moralisch anders bewerten. Um diese Bewertung geht es mir in diesem Artikel aber nur sekundär. (auch wenn ich persönlich hier tatsächlich die Rechtslage mit meinem moralischen Empfinden übereinstimmt.) Was mich persönlich fassungslos macht: Wie um Himmelswillen können sich Staatsvertreter (und ja, Soldaten sind in diesem Fall Staatsvertreter und handeln als solche, wenn sie ein Flugzeug abschießen. Wären sie keine Staatsvertreter, würden sie nicht in einem Militärflugzeug sitzen und die Entscheidung über den Abschuss fällen können) offen hinstellen und sagen, sie wenden nur dann das GG an, wenn es ihnen passt. In diesem Fall gibt es vielleicht einige, die es für moralisch richtig halten, sich über das Grundgesetz zu stellen. Wie es aber mit der Moral ist, ist Moral rein subjektiv. Was machen wir, wenn ein Staatsvertreter es auch für moralisch richtig hält, einen Menschen zu foltern, um evtl. den Rest der Bevölkerung vor Anschlägen zu schützen. Würdest du es auch für richtig halten, dass hier der Staatsvertreter sich über die Verfassung setzt? Es geht hier nicht um irgendwelche „popeligen“ Gesetze wie die StVO, irgendwelche Irrungen und wirrungen der gesetzesverliebten Bürokratie oder die Bundeskleingartenordnung. Es geht hier um Menschenrechte. Um Rechte, die jedem von Geburt aus zuteil wird und in diesem konkreten Fall den Flugzeuginsassen abgesprochen werden. Wenn wir es jetzt in diesem einen Fall zulassen, dass der Staat sich einmal über diese Menschenrechte wegen subjektiven Vorstellungen hinwegsetzt, wer ihn davon abhalten es in anderen Fällen zu tun?
Jetzt aber zum moralischen: Deine Beispiele unterscheiden sich von dem Flugzeugabschuss elementar: In deinen Beispielen hast du Ressourcen, die knapp verteilt sind und die man mit größtmöglicher Effektivität einsetzen muss. Man bewahrt Leben, sogut es mit den verfügbaren Ressourcen geht. Das Flugzeugbeispiel unterscheidet sich davon in einem wichtigen Punkt: Man wird selbst zum Mörder. Man selber tötet. Das unterscheidet den Kampfpiloten von dem Notarzt, der zuerst die schwerverletze A als die B behandelt. Besonders weil niemand 100% sicher sein kann, dass die Flugzeuginsassen (und Stadionbesucher) überlebt hätten, bewerte ich das moralisch anders.(Wobei man an dieser Stelle juristisch wieder die Frage aufgeworfen wird, ob hier zwingend Lebenslänglich wegen Mordes wirklich Tat und Schuld angemessen ist, das aber nur am Rande)
Wie bereits gesagt, moralisch kann man das auch anders bewerten (btw. hätte ich vor Montagabend das Thema auch etwas anders gesehen, meine Meinung aber im Verlauf der Diskussion geändert). Da Moral aber leider etwas rein subjektives ist, dass jeder für sich auslegen kann, können wir sie nicht über Menschenrechte stellen und diese Frage schon gar nicht einem einzelnen Verteidigungsminister überlassen.
Sonst unterscheiden wir uns nicht von Unrechtsstaaten wie China, Kuba oder auch von den USA, die dem vermeintlich moralisch höheren Gut „Schutz der Nationalen Sicherheit“ jeden vielleicht/eventuell terrorverdächtigen Foltern.
Es geht dabei auch btw. nicht darum, dass das GG nicht hinterfragt werden dürfte. Ursprüngliche Auslegungen wie den Begriff des Sittengesetzes in Art. 2 I GG haben vielen Homosexuellen bedeutendes Leid zugefügt, wir haben mit Art. 15 GG ein ziemlich fragwürdiges sozialistisches Grundrecht geschaffen, über den Umfang von Art. 5 GG lässt sich auch sicher streiten (um nur einige Beispiele zu nennen) Auch muss über die Menschenwürde diskutiert dürfen (bei der Frage der Abtreibung ist das sogar unerlässlich). Hier hat sich aber der Staat die eine von zwei roten Linien überschritten, die er nicht überschreiten hätte dürfen. Das darf in einem Rechtsstaat nicht passieren (selbst wenn man es, so wie du, moralisch anders bewertet).
Oktober 22, 2016 at 11:32 am
Hi,
vielleicht schon etwas spät mein Kommentar, aber das Thema finde ich doch sehr interessant (auch wenn im Nachhinein der Film nur den Anstoß und keine ernsthaften Argumente geliefert hat).
Erst einmal möchte ich darauf hinweisen, dass sowohl im Film als auch hier (oder gerade hier) man etwas genauer auf den Wortlaut achten sollte. Es geht in dem Fall nämlich um Totschlag und nicht um Mord, da in keinster Weise niedere Beweggründe zu erkennen sind. Die Schuldigkeit Richtung Totschlag sehe ich allerdings sehr eindeutig und würde rechtlich wohl auch nicht anders ablaufen. (Wie hierzu Hart aber Fair argumentiert hat – falls dass das Niveau dort überhaupt zulässt – weis ich nicht, ich schau es nicht mehr)
Nun ist aber die Bestrafung meiner Meinung nach ein anderes Thema und könnte sogar gegen Null ausfallen, da eine Privatperson (wie hier der Pilot) nicht für rettende Absichten oder so ähnlich (bin kein Jurist, sondern ärmlicher Wirtschaftler) – z.B. jemanden töten um die eigne Familie zu retten – bestraft werden darf. In diesem Fall ist das den Willen zu haben, 70.000 Menschen das Leben zu retten. Wie dies im Gesetz geanu geregelt ist entzieht sich meiner aktuellen Faulheit^^
Lasse mich aber gerne aufklären, bzw schaue dies die Tage mal nach.
Das Rechenargument, dass x * unendlich immer unendlich ist, finde ich hier ebenfalls falsch, da man dann weitergehen kann und sagt:
Ich würde gern wissen gegen welche Wertigkeit die Funktionen
70.000 * X und (164+unbestimmt) * X
im Verhältnis zu einander stehen. (Wobei X der Wert eines Menschen Leben ist)
Ich habe also (70.000*X) / (~170*X) mit X gegen unendlich
Ich hoffe Mathematiker verhauen mich jetzt nicht gleich wenn ich hier L‘ Hospital anwende und dann durch ableiten darauf komme, dass Ersteres ~412 Mal so viel Wert ist wie Letzteres.
Aber wie gesagt ich halte alle Mathematischen Begründungen für falsch.
Das wichtigste Argument hier für mich ist, dass in dem Beispiel deutlich darauf hingewiesen wurde, dass im Flugzeug ein Terrorist war und mir persönlich kein Beispiel bekannt ist in dem es dann überlebende gab (im Flieger). Dies mag an meiner Unkenntnis liegen, dann lasse ich mich gerne aufklären. Somit ist das Zug Beispiel aus meiner Sicht nämlich nicht ganz richtig und müsste eher so lauten:
Ein Wagon mit Passagieren rast auf ein Gleis mit Bauarbeitern zu an dessem Ende eine Wand ist (alle tot), allerdings ist kurz vor diesen noch eine Weiche, die den Wagon in einen Fels fahren lassen würde. Man könnte nun eingreifen und die Passagiere des Wagons frühzeitig durch umstellen der Weiche töten, um den Rest zu retten. Was tut man?
Das Beispiel ist natürlich übersimplifiziert, aber spiegelt mein Verständnis des Falles wieder. Auch in dem Fall wäre es Totschlag mit einem entsprechenden Strafmaß. Es ist mir hierbei übrigens egal wie viele wo drin sind sondern es geht allein darum, dass es sich um Tod geweihte und noch Menschen mit Lebenschance handelt. Weswegen ich die Simplifizierung für wichtig halte und nicht auf die Abwägung kommen will, welches Menschenleben denn mehr wert ist. (Das ist für mich eine ganz eigene Diskussion für den eher privaten Bereich vorerst)
Beste Grüße
Maximilian aus Konstanz
PS: Ich hoffe meine juristischen und mathematischen Ansichten liegen nicht völlig daneben