„Lass das, mein Kind!“ Faust wich in Goethes gleichnamigem Werk der Frage Gretchens nach seiner Religion aus. Betrachtet man Gretchens beharrliches Nachfragen zum Glauben und zur Kirche näher, erkennt man Parallelen zur heutigen Gesellschaft: In den letzten Jahren wurde das Nebeneinander von Staat und Kirche zunehmend in Frage gestellt und die Forderung einer staatliche Neutralität in Religionsfragen verstärkt zum Ausdruck gebracht.

Schon Goethe thematisierte den Konflikt zwischen der Gläubigkeit der Gesellschaft als individuelle Stimmung und einer aufgeklärten Haltung des Bürgers zum Staat. Einige aktuelle Streitfragen, die den Konflikt zwischen Kirche und Staat zum Thema haben, sind ebenfalls keine persönlichen Gewissensfragen, wie sie sich größtenteils Kulturwissenschaftler stellen, sondern politische Grundsatzfragen, die große Teile der Gesellschaft beschäftigen.

Eine aktuell wieder aufkommende Streitfrage ist die Einschränkung der Freiheit des Einzelnen durch den Staat aus kirchlichen Motiven. Dabei wird vor allem mit Blick auf die anstehenden Osterfeierlichkeiten über die Sinnhaftigkeit des staatlich angeordneten Tanzverbotes an stillen Feiertagen diskutiert.

Die christliche Kirche feiert im Jahr zahlreiche Feiertage. Davon sind einige wenige sog. stille Feiertage. In Bayern sind 10 Feiertage, u.a. Aschermittwoch, Karfreitag, der Volkstrauertag und Heiligabend, still, was nicht heißt, dass alle dieser Tage arbeitsfrei sind. Abgesehen vom Volkstrauertag haben all diese Festtage einen religiösen Hintergrund.

Die Regelungen zu diesen besonderen Tagen unterscheiden sich zwischen den Bundesländern. Dabei sind die Vorschriften in Bayern und Baden-Württemberg verhältnismäßig streng. Karfreitag und Karsamstag sind ganztägig stille Tage, an Heiligabend gilt das Gebot der Stille von 14 bis 24 Uhr und die anderen Tage sind von 02 bis 24 Uhr still. Vom sog. Tanzverbot sind nicht nur Tanzveranstaltungen, sondern alle Veranstaltungen, die die gebotene Ruhe stören, umfasst, so z.B. auch das öffentliche Vorführen von bestimmten Filmen.

Was aber unterscheidet die stillen Feiertage von den anderen (kirchlichen) Feiertagen?

Bei den stillen Feiertagen handelt es sich um Tage der Trauer, Buße und des In sich Gehens.

Da wir nächste Woche das Osterfest feiern werden, möchte ich im Rahmen dieses Artikels insbesondere auf die Bedeutung des Karfreitags näher eingehen.

Am Karfreitag wurde Jesus auf dem Hügel Golgatha gekreuzigt. Dabei ist der Tod Christi das österliche Opfer worin „Das Lamm Gottes, das die Sünden der Welt hin wegnimmt“ (Joh.1-29), die endgültige Erlösung der Menschen vollzieht. Karfreitag ist sowohl für die katholische als auch für die evangelische Kirche der wichtigste Feiertag des Jahres.

In unserer heutigen Gesellschaft sind jedoch nicht mehr alle Menschen gläubige Christen. Vielmehr besteht diese auch aus anderen Religionsgruppen und auch Konfessionslosen. Dennoch bestimmt der Staat, wie der einzelne sich an diesem Feiertag zu verhalten hat, unabhängig von dessen Zugehörigkeit zur christlichen Kirche oder dessen christlicher Überzeugung. Zu Recht?

In der Debatte um das Tanzverbot wird von dessen Gegnern häufig das Argument der Freiheit des Einzelnen angeführt. Vor allem in liberalen Kreisen wird immer wieder die Forderung der strikten Trennung des Staates von der Kirche, dem sog. Laizismus, und einer durch staatliche Regelungen nahezu uneingeschränkten Freiheit des Bürgers laut. Diese Forderungen sind auch durchaus legitim, denn sowohl die religiöse bzw. weltanschauliche Neutralität des Staates, als auch das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit sowie das Recht auf allgemeine Handlungsfreiheit sind im Grundgesetz in Art. 140 GG bzw. Art. 2 GG fest verankert.

An dieser Stelle möchte ich einmal betonen, dass auch ich eine solche Neutralität des Staates befürworte und mir mehr Freiheit für den Einzelnen und weniger staatliche Regelungen wünsche. Jedoch bin ich der Meinung, dass die Freiheit des Einzelnen nur soweit gehen kann und darf, wie sie jemand anderen nicht in dessen Freiheit beeinträchtigt, denn Freiheit ist immer die Freiheit aller und somit durch die Freiheit der anderen a priori eingeschränkt. Leben die einzelnen Individuen ihre Freiheit nach ihren persönlichen Wünschen und Bedürfnissen aus, kommt es nicht selten zu Konflikten zwischen den Interessen der einzelnen Bürger. So auch an stillen Feiertagen: Während ein Teil der Bevölkerung an Karfreitag zu unterhaltsamen Veranstaltungen, wie etwa in eine Diskothek, gehen möchte, liegt einem anderen Teil daran, dem Tag in Stille und Trauer zu begegnen, bewusst in sich zu kehren und die Bedeutung des Tages zu wahren. Diese beiden von Grund auf verschiedenen Arten den Karfreitag zu verbringen sind nur schwer miteinander vereinbar. Das Argument, dass der gläubige Bevölkerungsteil in seiner Religionsausübung durch das Feiern nicht beeinträchtigt würde, mag nicht überzeugen. Die Veranstaltungsorte sind zwar i.d.R. geschlossene Räume, aus denen, wenn überhaupt, nur wenige Geräusche nach außen dringen, jedoch ist ein Besuch in der örtlichen Diskothek oftmals mit erhöhtem Alkoholkonsum verbunden, der nicht selten in der Verhaltensweise der Feiernden zum Ausdruck kommt. Zudem erfordert die Durchführung von entsprechenden Unterhaltungsveranstaltungen einen hohen personellen Aufwand.

Ob vom Staat oder unseren Mitmenschen, wir werden tagtäglich in unserer Freiheit eingeschränkt. Als Beispiel seien hier die gesetzliche geregelte Nachtruhe, das Rauchverbot in öffentlichen Gebäuden und Gaststätten und die Beeinträchtigung des Ruhebedürfnisses durch einen singenden Nachbarn genannt. Die individuelle Freiheit eines jeden ist somit für sich allein kein taugliches Argument. Anders als mit den Regelungen zur Nachtruhe oder dem Rauchverbot greift der Staat mit dem Tanzverbot an stillen Feiertagen jedoch nicht allein zum Schutz anderer Menschen in unsere Freiheit ein. Vielmehr regelt er damit das Verhalten der Bevölkerung aus religiösen, d.h. christlichen Motiven, und das obwohl der Staat durch Art. 140 GG zur Neutralität in religiösen Fragen verpflichtet ist. Doch ist eine völlige religiöse Neutralität des Staates wirklich möglich?

Der deutsche Staat ganz gelöst von der Kirche ist nur schwer vorstellbar. Dies mag an der christlich-jüdischen Tradition unseres Landes liegen, die über viele Jahrhunderte gelebt und bewahrt wurde. So haben nicht zuletzt die christlichen Werte auch eine Einbeziehung bei der Verfassung des Grundgesetzes erfahren. Bereits in der Präambel des Grundgesetzes wurde mit der Formulierung „im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“ ein Verweis zum Transzendentalen (Göttlichen) geschaffen. Auch Art. 1 GG verdeutlicht, wie wichtig die Kirche mit ihrer Spiritualität und ihren Werten für uns ist. Dieses Verständnis der Menschenwürde als von Gott gegeben, macht die Stärke unserer freiheitlich-demokratischen Ordnung aus. Der deutsche Staat ist zwar durch das Grundgesetz zur religiösen Neutralität verpflichtet, gänzlich von der Kirche losgelöst ist er jedoch nicht.

Religion an sich ist grundsätzlich Privatsache in dem Sinne, dass jeder die Freiheit hat seinen Glauben auszuüben oder eben nicht. Dabei ist es natürlich auch möglich, Gott für sich allein zu erfahren, die Religion in ihrer Gesamtheit lebt jedoch vom Zusammenleben der Menschen. Dies gilt nicht nur für das Christentum, auch das Judentum und der Islam haben die angenehmere Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens als zentrales Element in ihrer Glaubenslehre.

Deutschland ist ein christlich-jüdisch geprägtes Land. Das Christentum war über viele Jahrhunderte ein fester Bestandteil im Leben der Menschen und von großer Bedeutung. Die Entfernung der Gesellschaft von ihren christlichen Wurzeln hat erst in den letzten Jahrzehnten begonnen. Blickt man auf die Generation der Großeltern, so kann man feststellen, dass der Glaube an Gott für diese noch immer ein wichtiger Bestandteil ihres Lebens ist, und auch die heutige junge Generation identifiziert sich noch mit den christlichen Werten, vielleicht nicht mehr in der Intensität wie einst, jedoch hat die Religion noch immer einen bestimmten Stellenwert in ihrem Alltag.

Durch die stillen Feiertage wird diese christliche Tradition, die für unsere Kultur eine grundlegende Bedeutung hat, aufrechterhalten. Dabei soll niemand gezwungen werden zu Glauben, jedoch soll das Bewusstsein des Einzelnen, dass dieser Tag ein besonderer Tag ist, erhalten bleiben.

Insbesondere die Bedeutung des Karfreitags hat durchaus auch einen Bezug zur Gegenwart: Beim Verlust eines geliebten Menschen werden wir unweigerlich mit Leid, Schmerz und dem Tod konfrontiert. Doch auch im Alltag kommen wir oft in Situationen, die derjenigen, in der Jesus sich am Gründonnerstag bzw. Karfreitag befand, ähneln: Wir wissen, dass Wahrheit und Gerechtigkeit für einen entsprechenden Betrag verkauft werden kann. Ordnung ist in unserer Gesellschaft oftmals wichtiger als Menschenfreundlichkeit und nicht selten wird der Mensch von den eigenen Freunden verraten und für deren Profilierung/Verbesserung der Situation geopfert. In solchen Situationen ergeht es uns wie Jesus beim letzten Abendmahl mit seinen Jüngern, von denen ihn am Ende des Abends einer für 30 Silberlinge verraten hat.

Doch auch die jüngere Geschichte unseres Landes erinnert daran, was Menschen einander antun können und Unschuldigen angetan haben. Die Auseinandersetzung mit dieser Thematik darf vor allem im Hinblick auf unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung nicht übergangen werden. Zwar wurde aus dem historischen Anlass des 1. und 2. Weltkriegs der Volkstrauertag als stiller Feiertag eingeführt, jedoch ist die Erfahrung des Leids und der Trauer nicht durch diese beiden Kriege begrenzt. Auch heute noch werden Menschen gefoltert, oder von gewaltsamen Regimen getötet. Der Karfreitag ist auch dazu da, sich dies vor Augen zu führen. Die Tradition und Bedeutung des Karfreitags ist somit nicht veraltet sondern hat immer noch einen Bezug zu jedem Einzelnen von uns. Dieser stille Feiertag soll uns einmal im Jahr daran erinnern, dass es nicht allen Menschen gut geht und uns dazu anregen an diesem Tag inne zu halten, ob aus religiösen oder humanistischen Gründen.

Ähnlich wie auch für Faust, spielt das Christentum für Teile unserer Gesellschaft keine große Rolle mehr und nicht wenige Menschen haben mit der Religion gar abgeschlossen. Dennoch sehnt sich ein Teil unserer Gesellschaft nach einer höheren Dimension, einem „Allumfasser“, „Allerhalter“ und hinterfragt „was die Welt im Innersten zusammenhält“. Für Faust ist Gott ein Teil der Erkenntnis, die er sucht, weshalb er sich auch nicht anmaßt, zu sagen, dass er nicht glaube. Er erfährt Gott als ein Gefühl, dessen Betitelung für ihn nicht weiter wichtig ist, sofern es einen selbst ausfüllt. Gretchen hingegen versteht ihr Christenrum als einen Rahmen, der ihr im Alltag Halt gibt. Gott ist für sie gnädig aber auch fordernd, weshalb sie ihr Leben nach den christlichen Sakramenten richtet. So wie es Faust frei steht die Religion als solche zu hinterfragen, so steht es auch uns frei die Bedeutung der stillen Feiertage und die damit verbunden staatlichen Regelungen in Frage zu stellen und für sich selbst festzulegen, welchen Stellenwert diese in der persönlichen Lebensgestaltung einnehmen sollen. Es ist jedoch wünschenswert, dass hierdurch die praktizierenden Gläubigen, für die der Glaube wie auch für Gretchen ein zentraler Bestandteil ihres Alltags ist, bei der Auslebung und Wahrung ihrer Religion nicht einschränkt werden. Eine Aufhebung des Tanzverbotes und damit die Zulassung von Freude, Spaß und Feiern an einem solchen stillen Tag stört nicht nur diejenigen, die dem Karfreitag Bedeutung zumessen, sondern gefährdet auch die Weitergabe der christlichen Tradition und dem mit diesem Tag verbundenen Gedankengut.

Abschließend möchte ich an dieser Stelle noch Thomas Morus zitieren: „Tradition ist nicht das Halten der Asche, sondern das Weitergeben der Flamme.“ Mit der Aufhebung des Tanzverbotes aber lassen wir zu, dass die Flamme zur Asche verkommt.

Die Frage, warum eine staatliche Regelung zum Verhalten der Bürger an stillen Feiertagen notwendig ist, lässt sich aufgrund meiner Argumentation ganz einfach beantworten: Unsere Gesellschaft braucht diese Regelungen allein schon auf Grund dessen, dass diese Diskussion geführt wird. Würde jeder Einzelne von uns seinem Mitmenschen und dessen Glauben gegenüber Respekt zollen, wären staatliche Verbote nicht notwendig.